«Wir brauchen Schriftsteller:innen, die über neue Lebensformen nachdenken»

Von Seriensucht und Erdnussflips bis zum Klimakollaps: Ein Mailverkehr mit dem Schriftsteller Jonas Lüscher.

Das Problem ist also schon zu gross, als dass es innerhalb des Kapitalismus gelöst werden könnte? Jede Lösung würde zum exklusiven Gut? 

In gewisser Weise ja. Aber ohne den Kapitalismus wird es eben auch nicht gehen. Und ohne die Wirtschaft sowieso nicht. Zumindest kurzfristig lassen sich gewisse Effekte eben am leichtesten über den Preis erreichen. Das klingt jetzt aber widersprüchlicher als es bei genauerer Betrachtung ist. Die Lage ist so dramatisch, dass wir gleichzeitig in einem kurzfristigen Notfallmodus, mittelfristig und langfristig denken müssen. Das Langfristige kollidiert aber meistens mit den politischen Realitäten und konkreten Zwängen wie Koalitionsverträgen und Legislaturperioden. Das bedeutet, wir können uns nicht nur auf die Politik verlassen. Und die unterschiedlichen Zeithorizonte verlangen vermutlich nach ganz unterschiedlichen Lösungsansätzen und diversen Akteuren. Es braucht also viel Flexibilität im Denken. Und ein Abschiednehmen von Ideologien und liebgewonnen Gewissheiten, ohne dabei aber wichtige Grundsätze wie Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit aus den Augen zu verlieren.

Sie arbeiten aktuell an einem Roman, der diese Gedanken aufnimmt?

Irgendwie ja, aber vermutlich anders als Sie sich das jetzt vorstellen. Ich kann es aber noch nicht richtig beschreiben, weil ich gerade selbst nicht so richtig verstehe, was ich da gerade für ein Buch schreibe. Das ist eine neue Erfahrung für mich und nicht immer ganz leicht auszuhalten.

Beinhaltet diese Erfahrung auch, dass Sie sich keine Deadline setzen können und einfach weitermachen müssen, bis sich Ihnen das Buch offenbart?

Was die Deadline betrifft, verhält es sich tatsächlich so, aber mit der Formulierung, das Buch offenbare sich mir, bin ich nicht einverstanden. Ich bin es immer noch, der das Buch erschafft, in dem ich es Wort für Wort, Satz für Satz schreibe. Es ist ja nicht so, dass das Buch schon irgendwo wäre und ich es entbergen oder ausgraben müsste. Und dennoch stimmt es natürlich, dass das Verhältnis von Text und Autor ein ziemlich schwer zu klärendes ist. Es bleibt trübe und chaotisch. Und manchmal droht der Text die Zügel zu übernehmen. Das ist immer ein heikler Moment, denn manchmal scheint es geboten zu sein, dem Text für einen Moment freien Lauf zu lassen, dann wieder ist es wichtig, die Zügel an sich zu reissen – und es gibt für diese Entscheidung keine Regel.

Sie sind hervorragend darin, aktuelle gesellschaftliche Phänomene in Literatur zu verwandeln. Nur verstehe Sie sich auch als Intellektueller und nehmen gern am Diskurs teil. Ist das den Geschichten, dem Lüscher als Erzähler, nicht abträglich? Immerhin haben Sie sich ja einst vor der akademischen Philosophie ins Erzählen geflüchtet.

Nein, das kommt sich eigentlich nicht in den Weg. Beides, das literarische Erzählen und die politische Stellungnahme, sind unterschiedliche Modi, um über die Welt nachzudenken. Es sind, um es mit Wittgenstein auszudrücken, unterschiedliche Sprachspiele, die nach unterschiedlichen Regeln funktionieren. Ich muss mir immer nur ein Bewusstsein dafür erhalten, welches Spiel ich gerade spiele. Das bedeutet, seiner eigenen Sprache gegenüber immer eine kritische, skeptische Haltung zu bewahren. Deswegen, glaube ich, befällt mich, wenn ich zu oft als «Welterklärer» unterwegs bin, ein Unwohlsein – und das ist auch richtig so; ich will mir in dieser Rolle nicht zu gut gefallen.

In «Frühling der Barbaren» wählen Sie ja eine fast schon Kleistsche Sprache. Sätze, die ich jetzt, da ich sie nach längerer Zeit wieder antraf, zum Teil mehrmals lesen musste. Mit anderen Worten: Sie zwingen uns einen sehr eigenwilligen Groove auf. Gibt es je einen Konflikt zwischen diesem Groove und der Geschichte?

Ich denke, einen Konflikt entstünde nur, wenn man einen ganz vulgären Begriff von Authentizität oder Wahrheit als Massstab anlegen würde. Dass man die Dinge also so erzählen muss, wie sie geschehen sind. Da stellt sich aber gleich das Problem, dass ich oft Dinge beschreibe, die gar nicht geschehen sind, sondern nur hätten geschehen können; oder sogar eben gerade nicht hätten geschehen können. Zudem ist es ein Irrtum, es sei möglich die Dinge so zu beschreiben, wie sie «tatsächlich» sind. «Zu den Dingen selbst!», dieser phänomenologische Schlachtruf erscheint mir immer als ganz hoffnungsloses Unterfangen und auch als ein grosses Missverständnis, was die Möglichkeiten von Sprache und Kunst betrifft. Da scheint mir so eine Art Reinheitsgedanken dahinter zu stehen. Und der Wunsch nach Reinheit ist immer ein Irrweg – ausser, wenn es um Hotelzimmer geht.

Ich meinte eher, ob man vielleicht auch mal das Ziel aus den Augen verliert, weil man sich an der eigenen Sprache ergötzt. Weil man zu verspielt ist. Aber ich glaube, Sie haben mir die Antwort gegeben: Dies scheint nicht der Fall zu sein.

Doch, ich glaube es gibt schon Momente, in denen so etwas wie eine Ökonomie des Erzählers geboten ist. Momente, in denen es angebracht ist, den sprachlichen Aufwand zu reduzieren und sich auf das Geschehen zu konzentrieren. Aber das sind einzelne, spezifische Situationen. Die, zumindest für mich, oft etwas mit der Demut gegenüber tatsächlich Geschehenem oder vor allem Erlittenem zu tun haben. Mich irritiert zum Beispiel, wie Herta Müller in der «Atemschaukel» immer wieder neue, hochliterarische, poetische Umschreibungen für den Hunger im Lager findet. Ich habe, obwohl ich ihn natürlich noch nie erlitten habe, den Eindruck, der Hunger sei etwas so ganz und gar Existenzielles, dass ich selbst bei seiner Beschreibung wohl eher einen ganz reduzierten Weg suchen würde, der mir angemessener erschiene. Aber das sind alles sehr persönliche poetologische Entscheidungen.

Nachdem wir besprochen haben, was Sie weltpolitisch und gesellschaftlich derzeit bewegt, würde mich noch interessieren, was Sie kulturell inspiriert – wenn Sie das denn trennen können.

Oft sind es schon die Werke, die sich auch mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen beschäftigen, die mich interessieren. Ich finde die ganzen Debatten um Teilhabe, marginalisierte Perspektiven, kulturelle Aneignung, gendergerechte Sprache, postkoloniale Strukturen, Körper und Identität etc. sehr interessant. Es ist ein wilder, chaotischer Streit, bei dem auch viel schiefläuft, aber es scheint mir doch, als gehe es dabei um etwas und als liege Veränderung in der Luft. Vor allem schätze ich es sehr, dass wir dabei so viel über Sprache diskutieren wie schon lange nicht mehr. Und es kommen dabei interessante literarische Werke heraus, zum Beispiel Mithu Sanyals «Identitti» oder Dorothee Elmigers «Aus der Zuckerfabrik» – nicht alle gelingen so wie diese beiden, aber viel sind zumindest sehr anregend. Und dann schätze ich es auch sehr, dass die Klassenfrage wieder mehr in den Fokus der deutschsprachigen Literatur gerät.

Dann passiert es aber gelegentlich auch, dass ich etwas ganz und gar Unpolitisches wahrnehme und es ein grosser Genuss sein kann. Vor kurzem die Premiere von Thom Luz’ Tschechow Abend im Münchner Staatstheater. Ein ganz immersives, ästhetisches Erlebnis.

Ich habe zuletzt – wie wohl sehr viele – die Autobiografie von Werner Herzog gelesen und war mal wieder von seiner Radikalität und Sturheit im Dienste seiner Visionen beeindruckt. Ausserdem auch davon, wie viele Leben in ein Leben passen.

Ja, man kommt sich bei der Lektüre wie der letzte Langweiler vor. Warum zum Teufel war ich eigentlich noch nie Rodeo Clown in Mexiko? Und wäre ich es mal gewesen, wäre das die Geschichte die ich jedem der nicht schnell genug wegrennt erzählen würde. Für Herzog ist das nur so eine kleine Nebenepisode in seinem Leben.

Es ist ein beeindruckendes Leben und ein beeindruckendes Werk – und Leben und Werk scheinen auf sehr glückliche Art eine Einheit zu bilden. Herzog trägt aber auch die Überzeugung mit sich, dass das, was er tut, richtig und gut ist. Zumindest in seiner Autobiografie ist wenig Platz für Zweifel. Das ist ein riskantes Leben. Es fällt mir nicht schwer, mir vorzustellen wie dieses Leben hätte schieflaufen können. Und es ist natürlich ein Glück, oder auch eine sehr kluge Entscheidung, sich dabei ganz der Kunst zu verschreiben und die Politik zu ignorieren. Nur da kann aus der Absenz von Zweifeln etwas Wertvolles entstehen.

Abgesehen davon: Gibt es eigentlich auch den «binge watchenden» Lüscher? Gibt es auch Serien, von denen Sie sagen: «Weltklasse! Besser als Kleist.»?

Der Reiz des Serienschauens hat sich leider in den letzten Jahren etwas verloren. Ich finde im Moment kaum mehr etwas, was mich so richtig zu begeistern vermag. Manchmal denke ich, das liegt auch an der Überfülle. Es wird gerade so viel produziert, dass es schwer ist, die Perlen herauszufischen. Die letzte Serie, die mich so richtig begeistert hat, war «Tschernobyl» und vielleicht «Devs» von Alex Garland. «Devs» war zum Beispiel so ein Glücksfund. Völlig untergegangen, kaum jemand hat sie gesehen.

Ich kann aber auch, und das ist die andere Wahrheit, ziemlichen Quatsch bingen. In schlechten Phasen sogar tagelang. Nur macht mich das dann im Endergebnis meistens ziemlich unglücklich. Fühlt sich an wie eine Familientüte Erdnussflips zu essen.

Abschliessend: Was erwartet das Zürcher Publikum am Abend des 28. Oktobers im Theater Neumarkt?

Das werden wir sehen. Charles Linsmayer wird es in der Hand haben. Ihm obliegt die Gesprächsführung. Wir kennen uns persönlich nicht. Haben bislang nur ein paar Mails ausgetauscht. Aber ich bin mit seiner Editionsarbeit aufgewachsen. Die 30 Ex-Libris Bände «Frühling der Gegenwart» standen bei uns zu Hause im Regal. Und ich hatte als Jugendlicher den einen oder anderen Band gelesen. Ich erinnere mich an Walser und Zollinger. Er ist bestimmt ein interessanter Gesprächspartner.

Jonas Lüscher ist am 28. Oktober zu Gast bei den von Charles Linsmayer geführten Hottinger Literaturgesprächen. Der Anlass im Rahmen von «Zürich liest» findet im Theater Neumarkt statt.

Portraits Jonas Lüscher November 2021
Fotografin: Ulrike Arnold(c) Ulrike Arnold/Jonas Lüscher

Von Adrian Schräder am 20. Oktober 2022 veröffentlicht.

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