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Zürichs Plätze im Interview: Bellevue

Redaktion Ron Orp
Redaktion Ron Orp

Für dieses Platz-Interview habe ich mich ins Zentrum des Geschehens gestürzt: zum Bellevueplatz. Im Gegensatz zu mir und meinem Velo scheint sich das Bellevue mitten im Verkehrschaos pudelwohl zu fühlen. Aber lies selbst.

Guten Tag, Bellevueplatz. Wie soll ich Sie denn nennen und ansprechen? Madame? Monsieur?
Hallo Ron, schön, dass du da bist. So förmlich musst du nicht sein, nenn mich einfach «Bellevue», so wie alle. Das Anhängsel «-platz» kannst du auch weglassen. Wenn von «Bellevue» die Rede ist, wissen ja alle, dass ich gemeint bin.

Gut, dann also einfach «Bellevue». Woher kommt eigentlich dein französischer Name?
Das ist eine Geschichte voller Eleganz und Charme. Im 19. Jahrhundert, als ich noch jung und frisch aufgeschüttet war, erblickte hier ein Hotel das Licht der Welt, das für seine exquisite Aussicht auf den Zürichsee und die Alpen bekannt war – das Grandhotel Bellevue. Ich liebe diesen Namen, er haftet an mir wie das Aroma von frischen Croissants am Morgen. Er verleiht mir ein wenig kosmopolitisches Flair, n'est-ce pas? Ich fühle mich wie ein Brückenschlag zwischen den Welten, ein bisschen schweizerische Zuverlässigkeit, gemischt mit einem Hauch französischer Noblesse. Es ist, als hätte ich eine Doppelidentität – auf der einen Seite die praktische Verkehrsdrehscheibe, auf der anderen der elegante Treffpunkt.

Du bist ja auch in illustrer Gesellschaft – nur einen Steinwurf entfernt befinden sich das Opernhaus und das Schauspielhaus. Was gefällt dir besser, Theater oder Oper?Ich meine, ich bin das Bellevue, ich bin eigentlich ja selber eine Bühne und mein Herz schlägt für die vielen Geschichten, die das Leben auf meinem Platz schreibt. Es ist deshalb sehr schwierig für mich, zwischen den beiden Kunstformen – und den beiden Insititutionen zu entscheiden. Ich denke aber, wenn ich das nächste Mal ausgehe, verschlägt es mich ins Opernhaus an eine Ballett-Aufführung.

Für die meisten bist du in erster Linie Verkehrsdrehscheibe. Wie fühlt es sich an, Tag für Tag im Mittelpunkt des Verkehrs zu stehen?
Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Stell dir mal vor: Täglich steigen hier 250'000 Menschen um und fahren 60'000 Autos vorbei. Viele wählen mich als Treffpunkt und nachts starten alle Nachtbusse hier. Welcher andere Platz kann von sich behaupten, mit so vielen Leuten in Kontakt zu sein? Ich fühle mich manchmal als Dirigent:in eines chaotischen Orchesters – Autos, Trams, Busse, Velos und natürlich Fussgänger:innen spielen mit und alle meinen immer, sie spielen die erste Geige. Ich liebe sie trotzdem alle gleichermassen, sie machen mich lebendig.

Ich schätze es wirklich sehr, dass ich hier auf so viele verschiedene Trams umsteigen kann. Aber mit dem Velo bei dir vorbeizukommen, macht echt überhaupt keinen Spass.
Oh ja, das Velofahren kann bei mir durchaus eine Herausforderung sein. Dass es schwierig ist, so viele unterschiedliche Verkehrsteilnehmer:innen zu lenken, hab ich ja schon erlebt, als hier noch elektrifizierte und Rössli-Trams gleichzeitig verkehrten. Für das Rössli-Tram bedeutete dies dann bald das Ende. Ich hoffe einfach, dass es nicht noch einmal so kommt, und appelliere an alle Verkehrsteilnehmer:innen, aufeinander Acht zu geben. 

Kommen wir noch zum zweiten Teil deiner Identität, wie du sie beschrieben hast. Wenn ich die Worte «kosmopolitisch» und «Noblesse» aus deinem Mund höre, denke ich vor allem an die Kronenhalle und das Café Odeon, die hier bei dir sind. Wen hast du hier schon so alles ein und aus gehen sehen? Du hast bestimmt tolle Geschichten parat.
Ja, das Odeon und die Kronenhalle sind zwei wahre Ikonen der Zürcher Gastroszene direkt an meiner Flanke. Das Odeon war besonders in den 1910er und 1920er Jahren ein Treffpunkt für Intellektuelle und Künstler:innen wie die Dadaist:innen, die dort ihre revolutionären Ideen diskutierten. In der Kronenhalle haben sich Prominente aus der ganzen Welt getroffen, von Schriftsteller:innen über Filmstars bis hin zu Politiker:innen und Geschäftsleuten. Ich könnte 1000 Geschichten erzählen, aber du musst verstehen, dass in diesen Kreisen Diskretion das Ein und Alles ist. Ausserdem möchte ich betonen, dass ich nicht nur die Elite, sondern ausnahmslos alle, die hier vorbeikommen, seit Jahrzehnten bestens verköstige. Zum Beispiel am Sternen-Grill oder natürlich direkt hier bei mir im Rondell mit Espresso von früh morgens und Pizza bis spät nachts.

Weisst du eigentlich, dass du auf dem Hönggerberg einen identischen Zwilling bekommst?
Du meinst das Vuebelle, meinen grünen Zwilling.

Ja, genau. Ein Platz, der dir in allen Dimensionen nachgebaut ist – aber viel grüner, biodiverser, nicht zubetoniert und ohne Verkehr – ein Platz, wo sich Mensch und Natur begegnen können. Wärst du nicht auch gerne ein bisschen mehr Vuebelle?
Das hat natürlich schon seinen Reiz, wenn die Leute zu dir kommen und gerne bei dir verweilen, statt nur umzusteigen. Aber schlussendlich wäre mir das viel zu langweilig ohne den Verkehr hier. Ich müsste mich wohl umschulen lassen, wenn ich plötzlich statt Trams, Autos und Velos nur noch Ameisenstrassen und Vogelflugbahnen lenken könnte.

Wenn du einen Tag mit einem anderen Zürcher Platz tauschen könntest, welcher wäre es?
Hmm, die sind mir alle irgendwie zu ruhig und zu wenig mondän. Aber einen Tag lang die Croisette in Cannes sein, das war schon immer ein Traum.

Eine Frage noch zum Schluss: Wenn du ein Song einer Zürcher Band wärst, welcher wäre es?
Ich liiiiebe Musik! Ich liebe Oper, ich liebe Techno, ich liebe den Sechseläutenmarsch, ich liebe alles! Aber die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: Das Lied «Am Bellevue» von Margrit Rainer und Ruedi Walter aus dem Musical «Eusi chlii Stadt».

Mittlerweile hängt mir der Song aber ziemlich aus den Ohren, weil ich ihn schon seit Jahrzehnten höre. Drum nehme ich lieber den Song «Bellevue» von Stereo Luchs, auch wenn ich nicht sicher bin, ob der Stereo den Song wirklich nach mir benannt hat. 

Ich sehe, du kennst dich nicht nur mit dem Verkehr, sondern auch mit Musik richtig gut aus. «Bellevue», vielen Dank für das Gespräch.
Gerne, Ron. Schön, dass du da warst.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf ronorp.net publiziert. 

 

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