«Im Zen geht es nicht um Friede, Freude, Eierkuchen»

Zen-Master Peter Widmer blickt auf 2022 zurück und wagt eine Vorschau auf 2023. Sein Rat: Immer mal wieder von ganzem Herzen nichts zu tun.

*Peter Widmer tritt am Zürcher Philosophie Festival auf, dazu weiter unten mehr.

Es ist Ende Jahr. Alle reden davon, was sie nächstes Jahr anders machen wollen. Viele wollen auf etwas verzichten. Woher kommt dieser Drang und bringt er uns wirklich das erhoffte Seelenheil?

Wenn wir am Jahresende zurückblicken aufs alte Jahr und darüber nachdenken, was wir anders machen wollen, dann ist das ja an und für sich etwas Gutes! Wenn wir dabei entdecken, dass wir auf etwas verzichten wollen, weil wir es nicht mehr brauchen – seien es verschiedene Bedürfnisse, Verhaltensweisen oder materielle Dinge –, dann kann das ja wirklich zu weniger Stress in unserem Leben führen und einer grösseren inneren Zufriedenheit, die im Nicht-Tun zu finden ist.  

Sie sind Zen-Meister, praktizieren Zen-Buddhismus schon seit Jahrzehnten. Was heisst das überhaupt?

Zen heisst wörtlich übersetzt «Meditation» und bedeutet im übertragenen Sinne: von ganzem Herzen Nichtstun! Gemeint ist damit ein innerliches Nichtstun, sich vom inneren Gebrabbel unserer Persönlichkeitsanteile, die fortwährend Mono- und Dialoge führen und alles, was wir machen, mit Gedankenzügen kommentieren, loszulassen und in ein inneres Schweigen zu gelangen, in wacher Präsenz im Hier und Jetzt, mit dem, was gerade ist. Dabei erlebt man einen inneren Frieden und eine innere Stille und gleichzeitig ein tiefes Glück. Es handelt sich um eine konzeptlose Klarheit des Bewusstseins, ein reines Bewusstsein ohne Intentionen, ein kristallklares Wahrnehmen aus zeitloser Stille, das unmittelbare Gewahrsein der «Soheit» der Dinge, ganz ohne innere Kommentare, Bewertungen, Absichten, Wünsche, Erinnerungen, etc. Daraus entsteht mit der Zeit ein sog. «Zeugenbewusstsein» als zeitlose, unpersönliche Präsenz - – oder anders: eine Perspektive der dritten Person auf die Dinge.  

Und wie können wir ganz einfach mehr Zen werden?

Durch Meditationspraxis auf dem Kissen, im Gehen, Stehen, Liegen, Essen, etc. bei allem, was wir tun im Alltag.

Im Rahmen des Philosophie Festivals wird auch von den Sozialen Medien und Likes als neuer Währung die Rede sein. Ist TikTok und alles, was damit einhergeht mit Zen vereinbar?

Der Alltag ist Zen! 

Mir reicht’s! Glück in der Genügsamkeit

Zürcher Philosophie Festival

Mir reicht’s! Glück in der Genügsamkeit

Mit: Peter Widmer. Moderation: Barbara Bleisch

Daumenhoch statt Dollarschein – Likes als neue Währung

Zürcher Philosophie Festival

Daumenhoch statt Dollarschein – Likes als neue Währung

Mit: Aditotoro, Julia von Lucadou, Wolfgang M. Schmitt. Moderation: Barbara Bleisch

Ist es überhaupt erstrebenswert, allem mit Gelassenheit zu begegnen?

Im Zen geht es nicht darum nur noch in Friede, Freude, Eierkuchen – oder Gelassenheit – zu baden und über den Dingen zu schweben, sondern darum, mit allem zu sein, was gerade ist: Offen zu sein für alles, was in uns und der Welt gerade da ist, Ambi- und Multivalenzen in und um uns grundlegend akzeptieren zu lernen und aus der Stille des gegenwärtigen Augenblicks heraus, mit dem wir auch im Sturm des Alltags immer wieder von Neuem in Verbindung sein können, zu handeln. 

Also stimmen Sie zu, dass genau die Momente, in denen wir schier explodieren – vor Freude, vor Aufregung, vor Wut – das Leben lebenswert machen? 

Ja, darum gehören alle intensiven Gefühle wie Freude, Aufregung oder Wut mit zu einem Zen-Leben. Bloss: Wenn wir zum Meditationsobjekt gehen im Alltag, dann halten wir einen Augenblick inne und desidentifizieren uns einen kleinen Moment von dem, was gerade ist, tauchen ein in das Glück des Augenblicks und haben ein wenig mehr Wahlfreiheit und Möglichkeiten, den nächsten Schritt, die nächste Aktion aus der Verbundenheit mit unserer inneren Stille zu wagen. 

Viele ziehen Kraft aus der Unzufriedenheit. Sie ist ihr täglicher Antrieb, ihr Motor. Was halten Sie davon?

Auch Unzufriedenheit gehört dazu! Sie ist das i-Tüpfelchen auf der Zufriedenheit! 

Es scheint ein Zeichen der Zeit zu sein, dass viele Menschen in den Extremen leben. Sie pendeln zwischen Völlerei und völligem Verzicht hin und her. Entweder «nicht genug kriegen» oder Genügsamkeit exerzieren.

Buddha wählte bewusst den «Mittleren Weg» jenseits der Extreme, nachdem er die Extreme selbst kennengelernt hatte. Das bedeutet, der Weg jenseits von Völlerei oder völligem Verzicht, jenseits von «nicht genug kriegen» oder «vollkommener Enthaltsamkeit». Interessanterweise gibt es hier starke Berührungspunkte mit der «Mesotes-Lehre» des Aristoteles. Auch hier geht es um die «richtige Mitte» jenseits der Extreme. Es geht um das bewusste Einnehmen einer inneren Haltung zu den Dingen und darum, weder an Völlerei noch völligem Verzicht anzuhaften. Wenn der Vordergrund unserer Wahrnehmungen, unseres Denkens, Fühlens, Empfindens und Handelns besetzt ist und wir nicht mehr hin- und herwechseln können zwischen dem «Vorder- und Hintergrund» unserer Wahrnehmungen, dann haften wir an. 

Wenn Sie Bilanz ziehen: Was war das für ein Jahr, dieses 2022?

Ein Kriegs- und Krisenjahr, wirtschaftlich, ökologisch, menschlich.

Wenn Sie in sich hineinlauschen (und natürlich die äusseren Signale mitbeachten): Was wird 2023 für ein Jahr?

Ich finde, was wir benötigen, ist inneres Wachstum, komplexeres Wahrnehmen und Denken, Offenheit gegenüber inneren und äusseren Ambi- und Multivalenzen, Akzeptanz, innerer Frieden, Gelassenheit, Wohlwollen und Mitgefühl.

Zürcher Philosophie Festival

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Von Adrian Schräder am 05. Januar 2023 veröffentlicht.

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