«Am Morgen höre ich sie lachen, fröhlich rufen, sich unterhalten, singen. Nachts, wenn es dunkel wird, legen sie sich in die Hängematten und dann geht es wieder stundenlang so, sie lachen, unterhalten sich miteinander.» Diese Eindrücke hielt die Fotografin Claudia Andujar bei einem ihrer Aufenthalte im Amazonasgebiet auf Tonband fest. Nun sind die Aufnahmen («Catrimani», 1974, 12 Min.) in der Ausstellung «Claudia Andujar: Der Überlebenskampf der Yanomami» auf Englisch zu hören.
Beim Betreten der Ausstellungsräume evozieren sie in Kombination mit den Bildern ein seltsames Gefühl in mir. Eben noch im Büro, werde ich in eine andere Welt entführt, eine magische fast, die sich auch in Claudia Andujars experimentellen Umgang mit dem Medium Fotografie manifestiert: Magentafarben leuchtet da der Urwald im Amazonasgebiet im Norden Brasiliens, in feurigem Gelb-Orange flimmern Blätter von Süsskartoffelpflanzen, die sich um ein Gemeinschaftshaus der Yanomami ranken. Die eindringlichen Farben entstanden durch die Verwendung von Infrarotfilm. Magisch wirken auch die Abzüge eines Schwarzweiss-Films, der versehentlich doppelt belichtet wurde: Hände scheinen auf in dichtem Grün, Körperteile verrenken sich in knorrigen Ästen, Gesichter überlagern sich zu fragmentierten Antlitzen à la Picasso.
Faszination für schamanische Kultur
Seit fünf Jahrzehnten widmet sich die 1931 in Neuenburg geborene Claudia Andujar (geborene Haas) der indigenen Gemeinschaft der Yanomami. Nachdem sich ihre Eltern früh trennten und die jüdische Familie ihres Vaters in den Vernichtungslagern der Nazis ums Leben kam, flohen Mutter und Tochter nach Brasilien. Als Erwachsene begann sie nach einem Studium der Humanwissenschaften und einer kurzen Ehe mit einem Spanier ein Leben als Fotoreporterin in São Paulo.
Bald wurde ihre Faszination für die schamanische Kultur der Yanomami in Fotografien und illustrierten Büchern deutlich, in den 1970er-Jahren mündete ihr Interesse an spirituellen Ritualen in einfühlsamen Porträts und einem von ihr initiierten Projekt mit Yanomami-Zeichnungen. Wie sie selbst wahrgenommen wurde, zeigt dieser Tonband-Ausschnitt: «Ich habe erst neulich erfahren, dass sie Nicht-Indigene die ‹Wütenden› nennen, nape. Sie scheinen zu denken, dass wir immer wütend sind, weil wir oft mit lauter Stimme miteinander reden und wir offenbar eine gewisse Spannung in uns tragen, die sie spüren.»
Von der Künstlerin zur Aktivistin
Als in den 1970er-Jahren der Lebensraum der Yanomami immer stärker bedroht war, verschrieb sich die Fotografin dem Kampf um die Rechte des indigenen Volkes und stellte ihre künstlerischen Ambitionen zugunsten des politischen Aktivismus zunehmend zurück. Sie schloss sich der Gemeinschaft an und pflegte enge Beziehungen zu den Menschen. 1978 gründete Andujar mit einer Gruppe von Aktivist:innen eine NGO, um sich für die Rechte und das Land der Yanomami einzusetzen. In den 1980er-Jahren reiste sie mit einem Schamanen und Sprecher der Yanomami um die Welt, um international auf deren Anliegen aufmerksam zu machen. Ihr jahrelanger Kampf führte schliesslich zur Demarkierung des Yanomami-Territoriums im Jahr 1992 – ein Erfolg, der durch die derzeitige brasilianische Regierungspolitik abermals in Gefahr ist.
Das Fotomuseum Winterthur zeigt die erste grosse Retrospektive ihres Werks und versammelt Fotografien, audiovisuelle Installationen, Zeichnungen der Yanomami und andere Dokumente. Die Ausstellung vermittelt ihre Sicht auf die Lebensweise der Gemeinschaft – man muss weder Kunsttheorie studiert haben noch in Umweltfragen oder der Geschichte Südamerikas bewandert sein, um einen Zugang zu Andujars Werk zu finden.
Titelbild: Maloca near the Catholic mission at the Catrimani River, Bundesstaat Roraima, Brasilien, 1976 © Claudia Andujar