«There is a crack, a crack in everything. That's how the light gets in.»

Redaktion Kyros Kikos
Redaktion Kyros Kikos

Die «Tage internationaler Literatur» laden zu aufregenden Entdeckungen. Isabelle Vonlanthen hat das Festival «Vom Verschwinden» kuratiert.

Seit 2016 präsentiert das Literaturhaus Zürich jeweils am letzten Februarwochenende ein aussergewöhnliches Festival. Isabelle Vonlanthen, Mitarbeiterin und mittlerweile stellvertretende Leitung, hat es initiiert und entwickelt.

Isabelle, im September 2023 hat Nicola Steiner die Literaturhaus-Leitung von Gesa Schneider übernommen. Wie lange bist du eigentlich schon dabei?

Schon ewig. Ich habe 2011 angefangen und bin seither zusammen mit der Leiterin für Programm und Projekte zuständig, Seit September bin ich auch die stellvertretende Leitung.

Wie kam es zu den geographischen Ausrichtungen, die bisher das Festival ausgemacht haben?

Das war 2016 eher eine spontane Idee. Nach dem arabischen Frühling hat mich die Situation dort sehr interessiert. Also habe ich Geldgeber gesucht, da das mit unserem normalen Budget nicht zu stemmen ist und wir machten dieses dreitägige Festival mit Gästen aus Ägypten, Libanon, Syrien. Es war toll. Es gab Einblicke jenseits der Katastrophenmeldungen und der Schlagzeilen. Geschichten über Menschen. Bestätigt durch den Erfolg der Erstausgabe haben wir uns jedes Jahr bemüht, wenig bekannte Gegenden zu beleuchten. Und vom Publikum wie auch von den Teilnehmenden kam sehr positives Feedback. Wir haben immer alle Festivalgäste für fünf Tage eingeladen, nicht nur für das Festivalprogramm. Wir haben zusammen gegessen, Verlage besucht, Ausflüge gemacht und haben versucht zu vernetzen. Und viele meinten, dass sie zu Hause kaum Gelegenheit haben, sich in solch entspannter Atmosphäre zu treffen. Es war natürlich wunderbar zu hören, dass sie kein anderes Festival kennen, wo dieses Netzwerken so zentral ist und sie auch Mensch sein dürfen.

Inhaltlich ist das Festival diesmal anders, der Schwerpunkt ein thematischer. Warum?

Das hat diverse Gründe. Wir wollten mal weg von diesen nationalen Zuordnungen, die ja immer auch was Beschränkendes haben und etwas Neues ausprobieren obwohl es natürlich zweischneidig ist. Das Publikum hat grosses Interesse an weniger bekannten Regionen und auch ich finde das spannend. Für die nächsten Jahre werden wir jetzt aber schauen, wie wir ein immer noch internationales, aber thematisch ausgerichtetes Festival etablieren können. Die Orientierung an einem Thema eröffnet natürlich auch grosse kreative Möglichkeiten.

Das diesjährige Thema lautet  «Vom Verschwinden». Wie kamst du darauf?

Das kann ich gar nicht genau sagen. Es war plötzlich da. Offenbar erzeugt die Zeit in der wir leben, das Gefühl zahlreicher Verluste. In Europa scheint sich einiges aufzulösen, die Weltordnung ändert sich gerade. Meine Generation ist zuversichtlich aufgewachsen, die Welt schien stabil, nach dem Ende des Kalten Krieges schien die Freiheit in Griffweite, es gab eine Zukunft, man konnte sich auf Dinge verlassen. Sehr vieles davon scheint nun zu erodieren. Das Verschwinden ist omnipräsent. Besonders in der Kunst. Vergänglichkeit ist eine ganz grosse Antriebskraft der Literatur. Das Bewusstsein der Vergänglichkeit intensiviert aber auch die Wahrnehmung des Augenblicks. Es geht auch um das Akzeptieren der (eigenen) Vergänglichkeit und dieser mit Mut, Widerstandskraft und Freude am Moment gegenüberzutreten. Wenn nichts verschwinden würde, würde auch nichts entstehen. Im Verschwinden steckt viel Realität, Gegenwart, Zukunft und damit auch gesellschaftliche Relevanz. Trotzdem geht es im Programm ja nicht um irgendwelches Untergangspathos. Es soll lustvoll, humorvoll, leicht, zupackend und interdisziplinär sein.

Erzähl doch mal was zum Programm und zu den Teilnehmenden.

Schnell war mir klar, ich möchte John Burnside für die Eröffnung. Ich bewundere schon seit Jahren seine Arbeit, die auch thematisch passt. Er schreibt über seinen Vater, dessen Abwesenheit seine Kindheit prägte, über den Tod, eigentlich über eine Welt, die nie ganz real ist, als ob das Reale hinter einem Vorhang passiert. Seine Texte erinnern mich an Zeilen von Leonard Cohen: «There is a crack in everything - that’s how the light gets in“. Er ist einer der grossen europäischen Erzähler und ein sehr humorvoller und lebenszugewandter Mensch. Auch schnell klar war, einen Stadtspaziergang mit der Spazierkünstlerin Marie Anne Lerjen zu machen. Es gibt viele Orte in Zürich, die aus dem Blick verschwunden sind.

Dann habe ich Helgard Haugs Stück «All right. Good night» beim Theaterspektakel gesehen und wusste, dass ich sie auch einladen möchte.

Helgard Haug ist doch auch Teil der Theatergruppe Rimini Protokoll?

Ja genau. In ihrem Stück, das auch als Roman vorliegt, werden zwei Dinge verwoben. Der verschwundene Flug 370 der Malaysia Airlines im Jahre 2014 und die Demenz ihres Vaters zur gleichen Zeit. Ein grandioser Text. Hier das physische Verschwinden von 240 Leuten, dort das allmähliche geistige Entschwinden eines nahestehenden Menschen.

Neben Lesungen stehen auch einige Panels auf dem Programm.

Stimmt. Der Philosoph Armen Avanessian befasst sich mit Flüchtigkeitsmanagement und wir haben die Choreografin Cathy Marston und die Künstlerin Esther Eppstein, eingeladen, mit ihm über Intensität und Flüchtigkeit des Moments zu sprechen. Karpi wiederum, der nicht nur Komiker sondern auch KI-Experte ist, wird auf dem Festival die provokante These vertreten, mit dem Voranschreiten der KI-Übersetzungstechniken könnte die menschliche Kompetenz des Schreibens und Lesens überflüssig werden. Die Gegenposition dazu nimmt die Autorin und Übersetzerin Ann Cotten ein.

Gespannt bin ich auch auf das Panel über Literatur im Krieg. Wir denken ja instinktiv, Kunst kann Konflikte erklären, Gräben überbrücken, die Stimme erheben. Aber geschieht nicht oft das Gegenteil? Dass Kultur im Krieg nicht heilt und hilft sondern verschwindet, dass die Menschen verstummen und keine Sprache mehr finden? Eingeladen ist neben Tanja Maljartschuk der Psychoanalytiker Jurko Prochasko. Ich hoffe sehr, dass er aus Lemberg kommen kann. Er ist ja im wehrfähigen Alter und wir mussten bei seiner Einladung wegen der Ausreiseerlaubnis die Relevanz seiner Teilnahme begründen. Ich vertrete aber die Meinung, dass es wichtig ist, immer wieder über die Ukraine zu sprechen damit das nicht in Vergessenheit gerät.

Wie kann ich mir denn die angekündigte Late Night Show vorstellen?

Wie ein unterhaltsames Fest. Das Festival soll ja nicht nur diskurslastig sein. Die Idee war, einfach was Entspanntes zu haben: Show, Musik, Tanz, eine offenen Bar. Erst recht bei diesem Thema.  Anja Zag Golob und Simone Lappert, die am Nachmittag auf einem Panel lesen und diskutieren, performen abends bei der Show ihre Gedichte. Anja schreibt sehr sinnliche Lyrik und präsentiert sie zusammen mit der Musikerin IOKOI. Und «Oh Darling, du zerfällst mir sehr» ist ein Projekt,  bei dem Künstlerinnen eingeladen wurden zu einem verfallenden Industriegebäude bei Mels Texte, Videos und Musik zu machen. Ich kenne den Showablauf noch gar nicht, bin aber total  gespannt.

Was ist mit dem Film in Xenix und dem Gespräch dazu mit Sayaka Murata?

Sayaka ist ja unsere aktuelle Writer in Residence. In ihrem Werk sind Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit und Verschwinden zentrale Aspekte. Wir wussten, dass sie filmbegeistert ist und haben sie gebeten zum Thema einen Film auszusuchen und sie hat sich für diese bildgewaltige Magical-Girls-Anime entschieden. Ich bin sehr neugierig auf ihre thematischen Erläuterungen im anschliessenden Gespräch.

Von Kyros Kikos am 15. Februar 2024 veröffentlicht.

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